Alkoholabhängigkeit- und Missbrauch

Im Rettungsdienst stößt man regelmäßig auf Patienten die unter Einfluss von Drogen und anderen Suchtmitteln stehen. Günstig, allzeit und überall Verfügbar steht der Genuss und der Missbrauch von Alkohol an erster Stelle.

Fakten und Zahlen für Deutschland

2017 betrug der pro Kopf Konsum an alkoholischen Getränken 131,1 Liter. Das sind 10,5 Liter reiner Alkohol.

1,61 Millionen Männer und Frauen im Alter zwischen 18 und 64 Jahren tranken Alkohol in missbräuchlicher Absicht.

Ca. 1,77 Millionen Männer und Frauen sind Alkoholabhängig.

Schätzungen in Deutschland kommen auf ca. 74.000 Todesfälle durch den Konsum von Alkohol.

13.343 Verkehrsunfälle bedingt durch Alkoholkonsum. 231 Todesfälle durch Alkoholunfälle.

2017 wurden fast 47.000 Gewalttaten unter Alkoholeinfluss verübt. Das sind über ein viertel aller Verdächtigen von Gewaltkriminalität.

Männer sind häufiger als Frauen betroffen wobei sich bei Frauen die Abhängigkeit und körperliche Folgeschäden schneller entwickeln.

Alkoholmissbrauch oder Alkoholabhängigkeit

Man unterscheidet grundsätzlich zwischen dem Missbrauch und der Abhängigkeit. Der Unterschied zwischen beiden besteht darin, dass der tägliche Konsum eher selten ist, keine Anzeichen einer körperlichen Abhängigkeit bestehen und Phasen mit häufigen Konsum sich mit Phasen geringerem Konsums wechseln. Die durch den Konsum entstandenen Folgen lassen sich in zwei Kategorien unterteilen.


Da der Mensch bzw. das Nervensystem nicht über einen spezifischen Alkoholrezeptor verfügt, wirkt Alkohol vielseitig. Die neurophysiologische Wirkung des Alkohols läuft über drei entscheidende Neurotransmitter

  • Dopamin
  • GABA (Gamma-Aminobuttersäure
  • Glutamat

Durch den Konsum von Alkohol wird durch die Ausschüttung von Dopamin das dopaminerge Belohnungssystem aktiviert. Es fühlt sich also toll an Alkohol zu sich zunehmen, man belohnt sich. Durch den Alkoholgenuss hemmt sich die Sekretion von Glutamat wodurch es zur Sedierung des Konsumenten kommen kann. Bei regelmäßigen Alkoholkonsum und der damit verbundenen verminderten Glutamatfreisetzung kommt es zu einer kompensatorischen Bildung neuer Glutamatrezeptoren. Reduziert sich der Alkoholkonsum kommt es zu einem Missverhältnis zwischen dem Transmitter Glutamat und der Rezeptorkonzentration. Im Entzug zeigt sich dann, dass das vorhandene Glutamat nicht die Rezeptoren bedienen kann die sich gebildet haben. Im Entzug äußert sich das im klinischen Bild in Form eines hirnorganischen Psychosyndroms (Entzügig). Da Glutamat auch an Gedächtnis- und Lernprozessen beteiligt ist kommt es zu kognitiven Beeinträchtigung und reduzierten Gedächtnisfähigkeit.

Durch den Konsum von Alkohol kommt es auch zur Verstärkung der hemmenden Funktion von GABA. Das äußert sich durch eine anxiolytische und sedierende Wirkung. Durch den chronischen Konsum von Alkohol resultiert eine herabgesetzte Empfindlichkeit der GABA-Rezeptoren. Im Entzug führt diese Toleranzbildung zu einer Übererregung.

Alkohol erregt zusätzlich das Endorphinsystem und führt zu einer vermehrten Freisetzung von Endorphinen. Dies hat eine analgetische und euphorisierende Wirkung. Da aber gleichzeitig die Adrenalin- und Noradrenalinausschüttung herabgesetzt wird begünstigt dies die Wirkung der Endorphine welches sich zusätzlich in impulsiven und aggressiven Verhalten äußert.

Die Vielseitigen Wirkmechanismen haben natürlich auch Einfluss auf das Erleben, Verhalten und Funktionseinbußen des Konsumenten.

Leistungsfähigkeit

  • Aufmerksamkeitsverluste (ab 0,3 Promille)
  • Verschlechterung im Abschätzen von Entfernungen (ab 0,3 Promille)
  • Verminderung der Reaktionszeit (ab 0,5 Promille)
  • Rotlichtschwäche (ab 0,5 Promille)
  • Verzögerte Hell-Dunkel-Adaption (ab 0,5 Promille)
  • Verringerte Umstellungsbereitschaft (ab 0,5 Promille)
  • Einengen des Sichtfeldes (ab 0,8 Promille)

Sozialverhalten

  • Veränderte Interpretation von Vorschriften und Regeln
  • Wiedersetzung gegen Vorschriften und Regeln
  • Risikobereitschaft erhöht sich
  • Verlust von sozialer Verantwortung
  • Zunahme von Aggression und impulsiven Handlungen
  • Reduzierte Kritikfähigkeit

Der heterogene Verlauf einer Alkoholabhängigkeit ist vielseitig. Innerhalb des meist chronisch-progredienten Verlaufs kann es auch zu einem Wechsel von schweren Trinkphasen und kontrollierterem Konsum kommen. Zu einer Spontanremission kommt es nur bei einem Fünftel der Betroffenen, wobei es dabei maßgeblich auf die sozialen Ressourcen ankommt (Wittchen & Hoyer, 2011). Die Alkoholabhängigkeit wird nicht vom Betroffenen selbst als solche erkannt sondern durch fachkundige Behandler. Gerade mal 1,7 Prozent der Erkrankten treten eine Entwöhnungsbehandlung an (Wienberg, 2001). Zwischen dem Auftreten der ersten Problematik und einer stationären Behandlung vergehen im Durchschnitt 11,8 Jahre (Wittchen und Hoyer, 2011). Vor einer Alkoholabhängigkeit ist niemand geschützt, folgende Risiko- und Schutzfaktoren begünstigen diese:

  • Physische und psychische Disposition des Betroffenen
  • Missbrauchsverhalten in der Familie und sozialem Umfeld
  • Erziehungsstil der Eltern oder sorgeberechtigten Personen
  • Soziale Unterstützung durch das direkte Umfeld des Betroffenen (Familie, Freunde)
  • Zugang zu medizinischen und psychotherapeutischen Hilfsangeboten
  • Verhaltenskompetenz im Umgang mit Suchtmitteln (psychoaktiven Substanzen)
  • Kommunikationsfertigkeiten des Betroffenen
  • Frühere und aktuelle psychische Störungen des Betroffenen
  • Optimismus des Betroffenen
  • Persönliche und Gesellschaftliche Verfügbarkeit von Alkohol und anderen Drogen
  • Substanz- und Einnahmecharakteristika des Betroffenen
  • Fähigkeit der Stressbewältigung/Resilienz des Betroffenen
  • Internale Kontrollüberzeugung des Betroffenen
  • Einfluss der Peergroup auf Erleben und und Verhalten des Betroffenen

Alkohol besitzt eine zweistufige Wirkung in Betracht der Abhängigkeitsentwicklung. Auf die positive und angenehme Wirkung des Alkohols über die glutamatergen und GABAergenen Systeme folgt eine negative und unangenehme Wirkung.

Diese unangenehme Wirkung hält deutlich länger an und kann sich in einem fortbestehenden Konsum summieren und zu stärkeren negativen Nachwirkungen führen. Da Alkohol Defekte in vielen Transmittersystemen verursacht kann es zu einer gestörten oder mangelhaften Selbstaktivierung des Belohnungssystems kommen. Dieser Effekt führt zu einem erneuten, kompensatorischen Alkoholkonsum (nur mit Alkohol kann man glücklich sein). Weiterhin kann der Konsum von Alkohol sich mit emotionalen und situationsspezifischen Erinnerungen und Gedächtnisinformationen verknüpfen. Dadurch kann es zu einer zusammenhängenden Repräsentation kommen.

Sollte also eine sonst aktuell abstinente Person eine ähnliche emotionale Belastung erleben wie in vorangegangenen Situationen in der sie Alkohol getrunken hat, so ist die Wahrscheinlichkeit/das Risiko hoch einen Rückfall zu erleiden.

Im Mittelpunkt der Entstehung einer Alkoholabhängigkeit stehen dysfunktionale Kognitionen und Verhaltensweisen. Nach intrapsychischen Modellen ist man der Auffassung, dass die Betroffenen in ihrer Sucht die Situationen nicht in ihrer Korrektheit überprüfen. Hierzu die folgende Abbildung zur Entstehung und Aufrechterhaltung der Alkoholabhängigkeit.

Verhalten und Auffälligkeiten einer Alkoholsucht

  • Morgendliches Trinken
  • Spiegeltrinken
  • Heimliches Trinken
  • Periodische Trinkexzesse
  • Gescheiterte Abstinenzversuche
  • Wiederholte Entgiftungsbehandlungen
  • Unauffälliger Konsum in Gesellschaft
  • Wechsel zu höherprozentigen Alkohol
  • Dosissteigerung
  • Zu- oder Abnahme der Rauschfrequenz

Man unterscheidet in fünf verschiedenen Alkoholikertypen (nach Jellinek, 1960):

  • Konflikttrinken (Alpha-Typ) Alkoholkonsum in bestimmten Situationen, da Betroffene nicht über hilfreiche Lösungs- oder Bewältigungsmöglichkeiten verfügen
  • Gelegenheitstrinken (Beta-Typ) unregelmäßiger aber übermäßiger Konsum ohne Kontrollverlust der Trinkmenge
  • Rauschtrinken (Gamma-Typ) keinerlei Kontrolle über die Trinkmenge wodurch keine geringen Mengen Alkohol konsumiert werden können
  • Spiegeltrinken (Delta-Typ) über den Tag verteiltes regelmäßiges trinken mit dem Ziel, einen dauerhaften Pegel/ dauerhaften Alkoholspiegel zu haben
  • Quartalstrinken (Epsilon-Typ) trotz Abstinenzen kommt es immer wieder zu Phasen von übertriebenen und unkontrollierten Konsum von Alkohol

Körperliche, soziale und psychische Folgeschäden durch Alkohol:

Körperlich:

  • Entzugserscheinungen
  • Sexuelle Dysfunktion
  • Epilepsien
  • Fettleber
  • Leberzirrhose
  • Gastritis
  • Anämie
  • Pankreatitis
  • Traumen und Frakturen ( durch Verletzungen)
  • Kardiomyopathie

Sozial:

  • Partnerschaftsprobleme
  • Trennung/Scheidung
  • Finanzielle Konflikte
  • Konflikte am Arbeitsplatz bis zur Kündigung
  • Straftaten
  • Verwahrlosung
  • Obdachlosigkeit
  • Soziale Isolation und Rückzug von nahestehenden Personen
  • Haftstrafen

Psychisch:

  • Aggressivität
  • Verlust des Selbstwertgefühls
  • Suizidalität
  • Chronische Eifersucht
  • Panikattacken
  • Alkoholinduzierte psychotische Störungen
  • Depression
  • Delir
  • Soziale Ängste
  • Gefühlsschwankungen
  • Gedächtnisstörungen
  • Konzentrationsschwierigkeiten
  • Distanzlosigkeit

Einsätze mit alkoholisierten Patienten sind anstrengend und erfordern ein hohes Maß an Professionalität. Von aggressiven Handlungen über bewusstlose Zustände kann man an der Einsatzstelle jegliche Zustände vorfinden. In unserer Podcastfolge Vatertagspezial- Umgang mit alkoholisierten Patienten spricht Daniel mit Marco, einem befreundeten Notarzt über den Umgang mit alkoholisierten Patienten. Auch wenn solche Einsätze am Nervenkostüm einer jeden Einsatzkraft nagen sollte man sich gewisse Dinge vor Augen führen. Das Auftreten der Einsatzkräfte selbst trägt genauso zum Erfolg des Einsatzes bei wie der Zustand des Patienten selbst. Auch alkoholisierte Personen haben Respekt verdient. Niemand ist davor geschützt nicht selbst abhängig zu werden. Hinter ausgeprägten Alkoholabhängigkeiten stecken die unterschiedlichsten Geschichten und Schicksale. Betroffene sind weder Dumm noch Menschen zweiter Klasse. Ein individuelles Vorgehen und ein hohes Maß an Empathie sind entscheidend. Deeskalation und Verständnis helfen einen kühlen Kopf zu bewahren. Der Eigenschutz darf jedoch nie vernachlässigt werden.

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Quellen:

Psychologie und Kommunikation für Notfallsanitäter, A.E. Linden Luhri Verlag

Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen, Jahrbuch Sucht 2019


BKA Bundeskriminalamt Wiesbaden 2018, www.bka.de


Effertz 2015

Veröffentlicht von Patrick

Patrick ist in den Mittdreißigern und lebt in Bochum. Verheiratet, (noch) keine Kinder aber eine süße Hundedame. Jede Menge Liebe und Leidenschaft für CRM/TRM, Rettungsdienst und Notfallmedizin und natürlich hochmotiviert in Sachen Ausbildung.

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